Pandemie ist keine Privatsache

Eine Pandemie ist keine Privatsache

Diese Stellungnahme der Bioethikkommission vom 27. Oktober 2021 empfehlen wir Ihnen zu lesen:

Ereignisse wie die aktuelle COVID-19-Pandemie sind jenseits einer möglichen persönlichen Betroffenheit immer auch kollektive Geschehnisse. Zu ihrer Bewältigung braucht es gesellschaftliche Kooperation und solidarisches Handeln der Einzelnen. Viele der notwendigen Bewältigungsstrategien, wie Abstandsregeln, Maskentragen, Testungen und Impfungen stellen, werden sie behördlich angeordnet, erhebliche Eingriffe in individuelle Freiheiten dar. Die dabei geforderten Verhaltensweisen haben aber auch ganz wesentlich den Charakter von notwendigen Akten der Solidarität des / der Einzelnen der Gemeinschaft gegenüber.

Impfungen stellen derzeit aus verschiedenen Gründen die erfolgversprechendste Strategie zur Bewältigung der Pandemie dar. Sie folgen dem allgemeinen Grundsatz der Medizin, dass präventive Maßnahmen immer Vorrang vor therapeutischen haben sollten, sie verhindern schwerste Krankheitsverläufe und haben im Vergleich zu Testungen und nachträglicher Behandlung medizinisch und ökonomisch die beste Risiko- bzw. Kosten-Nutzen-Relation für die Gesellschaft. Geimpfte Menschen haben ein geringeres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren und dieses weiterzugeben; durch eine Impfung schützen sich Menschen also nicht nur selbst, sondern auch andere. Diese Fakten werden von manchen Akteuren bewusst geleugnet, und Menschen werden durch Falschinformation verunsichert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie das Ziel einer höheren Durchimpfung unter Wahrung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung erreicht werden kann.

Einerseits stellt nämlich jede Impfung einen Eingriff in die körperliche Integrität dar. Damit wird das Recht auf körperliche und gesundheitsbezogene Selbstbestimmung berührt und es ist, wie bei allen körperlichen Ein- griffen, von der Notwendigkeit einer informierten Zustimmung auszugehen. Entscheidungen, sich nicht impfen zu lassen, sind zu respektieren, auch wenn die Gründe dafür aus der Sicht anderer und aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar erscheinen.

Andererseits hat die Impfung gegen COVID-19 zweifellos eine deutliche soziale Dimension. Jeder Mensch verfügt bei einer Impfentscheidung nicht nur über seinen eigenen Körper und seine eigene Gesundheit. Ent- scheidungen für oder gegen die Impfung berühren in vielfältiger Weise das Wohl anderer und das der Gesell- schaft. Sie schützen eben nicht nur die Geimpften vor schwerem Verlauf und Tod, sondern reduzieren in hohem Ausmaß auch das Risiko, andere zu infizieren. In manchen Kontexten wie in Schulen und im Gesundheits- und Pflegebereich sind diese Zusammenhänge besonders greifbar und bringen, vor allem wo es um besonders gefährdete Gruppen von Menschen geht, auch eine besondere moralische Verantwortung mit sich. Immer werden hier neben dem eigenen Recht auf gesundheitsbezogene Selbstbestimmung auch die entsprechenden Rechte anderer berührt, wie z.B. die Rechte von Eltern, nicht ihre Kinder in der Schule vermeidbaren Risiken auszusetzen. Der Staat hat hier nicht nur individuelle Entscheidungsspielräume zu garantieren, sondern ist der Gesundheit aller Mitglieder einer Gesellschaft verpflichtet.

Natürlich sind auch Impfungen mit Risiken verbunden. Ein verantwortungsethischer Umgang muss diese jedoch in eine Relation zu den erwartbaren Belastungen und Schäden durch eine drohende Infektionserkrankung und dem Beitrag bringen, den Impfungen zum Wohl Dritter leisten. In diesem Zusammenhang kann es, nach bereits mehr als 6,5 Milliarden verabreichten Impfdosen weltweit, als sicher gelten, dass das Risiko, durch eine Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus einen schweren Krankheitsverlauf oder Langzeitfolgen zu erleiden, ungleich höher ist, als die mit einer Impfung assoziierten Risiken. Zu einer verantwortlichen Impfpolitik gehört aber auch, dass es neben dem Blick auf mögliche Risiken eine sachliche und unvoreingenommene Information über Häufigkeit und Schwere von Impfdurchbrüchen gibt und nach ihren Ursachen geforscht wird. Doch stellen auch diese die prinzipielle Sinnhaftigkeit von Impfungen nicht in Frage.

Sich nicht impfen zu lassen, obwohl es für eine Person medizinisch möglich wäre, bedeutet daher insgesamt, sich einem solidarischen Akt zu entziehen, obwohl man gerade in der COVID-19-Pandemie in vielfältiger Weise selbst Nutznießer gesellschaftlicher Solidarität ist.

Impfungen helfen effizient, eine Überlastung der Intensivstationen zu verhindern. Die intensivmedizinische Pflege von COVID-19-Patientinnen und -Patienten ist im Vergleich zu anderen Gruppen wesentlich aufwändiger, was zu einer rascheren Verknappung der Betten führt. Die verfügbaren intensivmedizinischen Ressourcen müssen jedoch für alle kritisch kranken Patientinnen und Patienten zugänglich gehalten werden. Gibt es zu wenig belegbare Betten, hat dies zur Folge, dass andere notwendige Interventionen wie z. B. Herzoperationen, Transplantationen, Tumoroperationen oder neurochirurgische Eingriffe abgesagt oder aufgeschoben werden müssen. Das Ergebnis ist, dass die betroffenen Patientinnen und Patienten durch diese „implizite Triage“ Nachteile in ihrer medizinischen Behandlung erleiden, die sich auf ihren körperlichen und psychischen Zustand negativ auswirken und möglicherweise zu massiven Schäden und Tod führen können.

Letztlich werden dann Ärztinnen und Ärzte in diesem Zusammenhang gezwungen, explizite Triage-Entscheidungen zu treffen – wer von mehreren Bedürftigen bekommt im Ernstfall ein Intensivbett –, die unbedingt vermieden werden sollten. Anders als oft vermutet, lässt sich die Zahl der Intensivbetten nicht beliebig steigern, weil es an ausreichend qualifiziertem Personal aus Medizin, Pflege und anderen Gesundheitsberufen fehlt. In der Darstellung von sogenannten „freien Intensivbetten“, z. B. im Dashboard der AGES („tagesaktuell freie Betten“), wird oft nicht berücksichtigt, dass aus diesem Grund nicht alle systemisierten Intensivbetten „belegbar“ sind.

Gibt es langfristig zu wenig Geimpfte, drohen Kindern und Jugendlichen womöglich wieder Schulschließungen. Es kann ein neuer Lockdown notwendig werden, der der Gesellschaft neben körperlichen und seelischen Schäden einen erneuten enormen wirtschaftlichen Schaden zufügt. Eine hohe Zahl an infizierten Menschen bringt auch ein höheres Risiko für neue Mutationen. Einige dieser Folgen, wie die wirtschaftlichen Kosten und die Unwirksamkeit bereits erfolgter Impfungen aufgrund neu aufgetretener Virus-Varianten, betreffen auch die Geimpften in einer Gesellschaft und damit ihre Rechte.

In einer solidarisch konstituierten Gesellschaft ist es notwendig, neben dem Aspekt des Schutzes der eigenen Gesundheit, auch die Verantwortung für den Schutz anderer Personen wahrzunehmen. Falls dies nicht über eine Impfung geschieht, sind daher andere Schutzmaßnahmen wie etwa Zugangsbeschränkungen, Maskentragen und regelmäßige Testungen erforderlich – insbesondere, solange Impfungen für Kinder noch nicht zugelassen sind. Im Gegensatz zu Impfungen und physischen Schutzmaßnahmen bieten Testungen jedoch keinen Schutz vor einer Infektion und können daher das Infektionsgeschehen nur in sehr beschränktem Ausmaß beeinflussen.

Zugangsbeschränkungen für nicht Geimpfte, z. B. in der Gastronomie oder im Handel, sollten daher nicht als Sanktion oder als versteckter Impfzwang verstanden werden. Eine mögliche unterschiedliche Behandlung von Geimpften und nicht Geimpften sollte nach sachlichen Kriterien erfolgen, die das Ausmaß betreffen, in dem sie für andere zu einer Gefahr werden können. Jene, die kaum mehr eine Gesundheitsgefahr für andere darstellen, müssen ihre Freiheitsrechte in vollem Ausmaß ausüben dürfen. Nicht immunisierte Personen (geimpft und/ oder genesen) müssen daher weiterhin Einschränkungen in Kauf nehmen, da sie andere in Gefahr bringen.

Die Pandemie betrifft jeden einzelnen Menschen und die Gesellschaft. Die Bewältigung der Pandemie wird daher auch nur in einer solidarischen Weise und gemeinsam gelingen.

>> Zu den Stellungnahmen der Bundesethikkommission.

 

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